Wirtschaft und Gesellschaft: in was für Zeiten leben wir?

Wir wollen wissen, in welchem Zustand unsere Gesellschaft aktuell ist? Und wie es um Europa steht?
Zu diversen prägnanten, sehr aufschlußreichen, aber auch recht bestürzenden Antworten möchte ich diese ARD-Dokumentation empfehlen – „Steuerfrei – wie Konzerne Europas Kassen plündern„.
Was ich in dem Film eindrucksvoll illustriert sehe, ist der heutige Stand der nach meinem Dafürhalten nahezu puren Lobby-Politik der Regierung Merkel.

Die Art Politik hat eine lange Vorgeschichte, denn praktisch alle Regierungen seit Kohl haben die Großunternehmen hofiert und sich Gesetze von ihnen diktieren lassen. So etwas führt, wie wir nun sehen können, zur Ausplünderung des Staates und der Gesellschaft, es verschärft soziale Unterschiede, demontiert somit die Demokratie – und ist schwer zurückzudrehen.
Woher kommen diese Entwicklungen? Köpfen wie Friedman und insbesondere Ludwig von Mises sowie Friedrich August von Hayek plus Konsorten haben spätestens seit den 1930er Jahren mit ihren neoliberalen Doktrinen der Ökonomie vieler Länder Pate gestanden („Chicagoer Schule des Wirtschaftsliberalismus“ – s. auch: Tony Judt, „Dem Land geht es schlecht“, Hanser Verlag 2010). Ableitungen wie „Reaganomics“ und „Thatcherismus“ sind in den frühen 1980ern entstanden und schließlich ist auch Kohl da immer treu mitgehoppelt – mitsamt seinem in puncto Wirtschaftspolitik relativ geringen Sachverstand; eine Materie, die ihn ja auch eingestandenermaßen im Grunde wenig interessiert hat. Sein Feld war wohl eher eine Art „Personalpolitik im weiteren Sinn“. Wir erinnern uns an seine „guten Kontakte“ – insbesondere im Zusammenhang mit Spenden und den vielen Korruptionsfällen, an deren Verschweigen er sich durch sein „Ehrenwort“ gebunden fühlte.
Milton Friedman war übrigens Mentor einer Gruppe von chilenischen Ökonomen in der Zeit der scheußlichen Militärdiktatur unter Pinochet (s. ggf. auch diesen Artikel in „Wikipedia„). Der Einfluß seiner liberalistischen Doktrin („Freier Markt möglichst ohne staatlichen Einfluß“)  führte in Chile zu einer Art „Konsumismus auf Pump“ (um Mißverständnissen vorzubeugen: nicht Kommunismus) mit in logischer Konsequenz nachfolgendem Wirtschaftskollaps.

Ich habe den Eindruck, daß der Mehrheit der Bevölkerung immer noch der Leitsatz aus der Adenauer-/Ludwig-Ära „nur wenn es der Wirtschaft gut geht, kann es dem kleinen Mann auch gut gehen“ sozusagen tief in den Knochen steckt. Dieses Konzept funktioniert aber heutzutage nicht mehr *). Es hat noch nie funktioniert – im Gegenteil: die historische Erfahrung zeigt, daß jedes Wirtschaftswachstum in guten Zeiten nur Wenige begünstigt, während die relative Benachteilungen der Masse der Bevölkerung sich eher verschärfen. Entscheidend ist nicht, wie reich ein Land ist, sondern wie ungleich die Einkommensverteilung ist. Eine große Ungleichheit in dieser Hinsicht zersetzt eine Gesellschaft von innen heraus. Wir haben aus dem ausgehenden 19. Jahrhunder bis in die 1970er Jahre überall eine „Ära der wachsenden Ablerhnung extremer Ungleichheit erlebt, sodaß staatliche Einrichtungen geschaffen wurden, deren Aufgeabe die Unterstützung von Bedürftigen war. … Dank Steuerprogression, Sozialhilfe und staatlicher Absicherungen verringerte sich in den modernen Demokratien die Kluft zwischen Reichtum und Armut. … All das haben wir in den letzten dreißig Jahren über Bord geworfen, hier weniger, dort mehr. (Zitat aus: Tony Judt, „Dem Land geht es schlecht“, Hanser Verlag 2010)“.
Eine richtggehende Plage ist dabei aus der Finanzwirtschaft an Banken und Börsen entstanden, insbesondere in England seit der Zeit der unseligen Thatcher-Regierung. Erst, wenn es wieder klar ist, wo das Spielfeld für Banken, Börsen und Konzerne anfängt und aufhört, erst, wenn die „Player“ wieder Leitplanken bekommen, begreifen und akzeptieren – freilich auch ohne jede kleinste Gesetzeslücke durch ihre Fachleute aufspüren zu lassen und auszunutzen (wie es ein amerikanischer Börsenmanager prägnant formuliert hat: „die Politik hat das Spiel erfunden, Wall Street spielt es ja nur“) – erst, wenn wir in dieser Demokratie wieder in konstruktiver Weise „mehr Staat“ haben (wie es Helmut Schmidt formuliert hat), erst dann könnte man mittlerweile praktisch abgeschaffte soziale Elemente unserer sozialen Marktwirtschaft wieder einführen. Dabei sollte niemand mehr versuchen (dürfen), den Leuten weis zu machen, daß dies zwangläufig mit Verlusten an Wirtschaftskraft verbunden sei – das genau ist ja die Augenwischerei, die ständig wiederholt wird, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Da wird fusioniert, was das Zeug hält, um mit weniger Beschäftigten noch höhere Gewinne zu erzielen und seine Marktmacht zu vergrößern – was nicht zuletzt den Effekt hat, daß die Politik so immer noch erpreßbarer wird (ich glaube allerdings, daß auch der Satz „too big to fail“ – zu groß, um bankrott zu gehen – eine Täuschung ist). Es darf einfach nicht erlaubt sein, daß schamlos Löhne gedrückt werden, bis die unter Sozialhilfeniveau und Armutsgrenze liegen – und daß dann höhnisch argumentiert wird, man solle sich doch den Rest beim Amt holen, wenn es etwa nicht langen würde. Bei der geringsten Aufforderung, mal wieder an soziale Belange zu denken, wird prompt die Karte „Arbeitsplätze“ hochgehalten und die Regierung knickt sofort ein. Anschließend werden die Leute trotzdem entlassen…

Es kann nicht so weitergehen, daß sich Konzerne und Banken praktisch nicht mehr für Staat und Gesellschaft engagieren, indem sie sich mit ihrer riesigen Beute in Richtung Steueroasen aus dem Staub machen, während hier in den Schulen der Putz von der Decke fällt, an neue Kitas nicht zu denken ist und auch Krankenhäuser Profit erwirtschaften müssen.

Bei Sparmaßnahmen wird ja offenbar reflexartig immer zuerst einmal an Kultur und Bildung gedacht – da sind ja auch die Lobbys nicht so groß…
Dabei fällt mir das alte deutsche Sprichwort ein:“ wes Brot ich eß, des Lied ich sing“, denn die Kulturpolitik ausgerechnet der grünen Landesregierung in Baden-Württemberg beinhaltet, daß für vergleichsweise lächerliche Einsparungen ganze Studiengänge an traditionsreichen Musikhochschulen wie Mannheim und Stuttgart geschlossen werden – obwohl  Honorarprofessoren an Musikhochschulen sowieso schon weniger verdienen als Lehrer an städtischen Musikschulen.
Neulich habe ich übrigens von dem Scherz mit dem Titel „Stuttgart 22“ gehört: der Flughafen sollte jetzt dann auch noch unterirdisch verlegt werden. Großartige Idee, köstlich!

Nun, Spaß beiseite – man kann sich wohl allmählich fragen: wird es tatsächlich ohne Revolution gehen? Solange jedenfalls eine derartig deutliche Mehrheit für Merkel, Rösner, Seehofer und dergleichen Kandidaten votiert, braucht sich niemand zu wundern, daß sich nichts ändert. Gibt es denn eine echte Alternative? Ich glaube ja – nur werden Parteien, die unbequeme Maßnahmen propagieren, prompt abgewählt.
Mir kommt übrigens diese konzertierte Anti-Steinbrück-Propaganda allmählich mysteriös vor. Zurzeit scheinen sich ja praktisch alle einig zu sein – da wird in bald jedem Satz, den der von sich gibt, ein „Haar in der Suppe“ gefunden. Die Front gegen den Kandidaten Steinbrück ist mir doch etwas allzu breit. Ich will hier keine Verschwörungstheorie aufbringen, denke aber doch, daß wir möglicherweise eines Tages zu diesem Thema noch mehr erfahren werden.
Solange es in einer Demokratie Gegenkandidaten gibt, die sich bewähren wollen, sollte man denen die Chance dazu geben. Die Bequemlichkeit, die in der Behauptung liegt, es gäbe ja eh keine Alternativen, kann nicht mehr lange aufrechterhalten werden. Wenn wir nicht sehr gut aufpassen und eine Regierung bekommen, die wirklich konsequente Gegenmaßnahmen ergreift, steuern wir auf ganz andere und wesentlich dramatischere Zeiten zu…

*) Fast müßte man den Satz heute durch eine Art Umkehrung ersetzen – wie etwa: „nur wenn es  dem kleinen Mann gut geht, kann es der Wirtschaft auch gut gehen“.

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