Zeitgenössischer moderner Jazz entwickelt sich seit geraumer Zeit offenbar in eine betont intellektuelle Richtung – ich höre in modernem, explizit aktuell-zeitgenössischem Jazz recht viel Attitude von recht „post-neutönerischer“ Art, insbesondere von Bands der jüngeren, mithin meist „studierten“ Generation.
Die Attitüde steht weiter im Vordergrund, als es mir persönlich gefällt. Es scheint international zwar wenigstens nicht die einzige Entwicklungsströmung zu sein, aber dennoch wohl die Hauptrichtung. Mit der Beobachtung stehe ich selbstverständlich nicht allein. Ein bekannter Jazzmusiker hat es unlängst so formuliert: „Früher wollten die Europäer so klingen wie die Amerikaner, heute scheint sich das irgendwie umzukehren.“
In gewissen Maßen bin ich ein Anhänger der These, daß sich stilistische Entwicklungen in der historischen Entwicklung des Jazz wenn nicht analog, so doch zumindest erkennbar ähnlich verhalten, wie es sich bislang in der europäischen Musik abgespielt hat – also die bekannte Linie der Stil-Epochen (um sie nur mal eben kurz anzudeuten) von „Gregorianik“ über „Klassik“ bis „Neue Musik“. Mit dem großen Unterschied, daß die jeweiligen Phasen im Jazz schneller durchlaufen wurden. Das Stadium von hochgradiger Abstraktion und Vielschichtigkeit ist nun allerseits erreicht und es will manchmal scheinen, als wollte der moderne Jazz die „Neue Musik“ demnächst zumindest einholen (wenn nicht gar überholen).
So richtig neu ist das nicht. „Free Jazz“ sehe ich allerdings – begründet durch die U.-S.-amerikanischen Rassenkonflikte samt der Bürgerrechtsbewegung und von der restlichen Welt ohne diese Hintergründe insofern vorwiegend nachgeäfft – unter dem Blickwinkel dieser Theorie als eine Art Ausnahme.
Natürlich, das ist ja klar, liegen die Haupt-Unterschiede zur neueren europäischen Konzertmusik vor allem im rhythmischen Bereich – aber das erwähnte hohe Entwicklungsstadium scheint im Sound von diversen engagierten Jazz-Ensembles in vielschichtigen rhythmischen Überlagerungen und Abstraktionen zu mehr oder weniger demselben Kontaktverlust mit der zugrundeliegenden Idee zu kommen, auf die man sich ursprünglich einmal bezogen haben dürfte. Der Bereich von Harmonik und Melodik ist offenbar bereits sehr europäisch, also kaum mehr besonders unterschiedlich. So klingen rhythmische Bewegungen mitunter wie spontane, konvulsivische Zuckungen, die restlichen Elemente in derselben „Flucht vor Konventionalität“ betont finster, quasi-depressiv und dabei nicht selten maniriert, auch pathetisch. Solche Musik kann in derart entwickelter Abstraktion nur noch von hochmotivierten Spezialisten produziert werden, die sich diesem Genre ganz und gar verschreiben*). Das ist zum Beispiel in der Musik von Mikkel Ploug zu bestaunen – ich höre, daß es großartige Spieler sind, aber mir macht die Musik kein Vergnügen. Oder – neulich live gehört: das aktuell hochgelobte „Jonas Burgwinkel Quartet“, das sich die zusätzliche Bezeichnung „Source Direct“ gibt. Ausgerechnet – denn es ist zu befürchten, daß man mit der Bezeichnung so ziemlich das Gegenteil dessen beschreibt, was zu hören ist.
Super-Spieler mit sehr kunstvoller Musik, aber – „when it goes into the deep“, spielt sich da für mich so gut wie nichts ab (als Ausnahme empfinde ich bei „Source Direct“ allerdings Rainer Böhms Klavier-Soli).
Nein, ich bin nicht schlecht gelaunt. Und ich bin mit der Materie so und so reichlich vertraut. Aber das ändert nichts…
Das Zitat von Bill Evans (s. Bild – zum Vergrößern 1x anklicken) ist so oder so eines Nachdenkens wert – und, wie ich finde, gerade auch einmal im Lichte dieser Betrachtungen.
*) Um nochmals auf „Free Jazz“ zurückzukommen – auch dies ist nicht neu: wer einmal Anthony Braxton „swingende“ Standards aus dem American Songbook hat spielen hören, dürfte wissen, was ich meine.